Grenzland

Die Sage von Chrysis und Alkestis

Rudolf Steiner Schule St.Gallen
Rorschacherstrasse 312
9016 St.Gallen
19:00 - 20:15 Uhr
Kollekte

Eingeschränkte Parkmöglichkeit vor Ort.
Bitte öffentliche Verkehrsmittel benutzen:
Bus Nr. 210/211 bis Haltestelle "obere Waid"
Unmittelbar nach ihrem Tod treffen zwei Frauen an einem für sie fremden Ort aufeinander.
Lichtvoll und jung ist die eine, glebt und gereift die andere. Im Grenzland erwartet sie Aglaia, eine Gestalt, die ihrem Weitergehen Einhalt gebietet, um sie fragend nochmals durch ihr Erdenleben zu geleiten.

Von Liebe und Schönheit, von Last, Schuld und Freiheit erzählt das Stück - vom Werden und Sein des Menschen.

Maren Galbrecht, Walter Gremlich und
Karin Naville Sprache und Schauspiel
Thomas Löffler Chorstimme
Danielle Schmid Eurythmie
Charisse Dumlao Klavier
Takuma Miyai Flöte
François Guillet Licht
Lily Grunau Inszenierung

FLYER

Zum «Grenzland»: Quellen und Motive



Wo liegen Quellen? Tief unten, unter dem Boden. So liegen die Quellen für mein Werk «Grenzland» weit unter meiner bewussten Erinnerung, bin ich doch in ein Milieu hinein geboren worden, wo Vorgeburtliches und Nachtodliches und der Gedanke der Reinkarnation so selbstverständlich waren, dass darüber kaum je gesprochen wurde.

Im Rahmen meines Studiums der Sprache und Literatur begegnete ich, vielleicht im Rahmen des Nebenfaches Philosophie oder auf Grund meiner Beschäftigung mit Gotthold Ephraim Lessing, der Persönlichkeit Moses Mendelssohns. Ein kleines biographisches Werk, dessen äussere Aufmachung wohl, aber dessen Autor und Titel mir nicht mehr erinnerbar sind, enthielt eine legendenhafte Darstellung von Mendelssohns Brautwerbung und Verlöbnis. Diese hat sich mir tief eingeprägt. Moses Mendelssohn war offenbar auf Grund seiner buckligen Gestalt von den Eltern seiner Erwählten darauf hingewiesen worden, wie selbstsüchtig jemand handle, der trotz eines körperlichen Gebrechens einen geliebten Menschen an sich binde. Mendelssohn bat daraufhin darum, sich bei einem persönlichen Besuch von seiner Geliebten verabschieden zu dürfen. Das wurde ihm erlaubt und er erzählte ihr die Geschichte von zwei ungeborenen Seelen, die einander so zugetan waren, dass sie verabredeten, sich auf der Erde wieder zu verbinden. Nun erfuhr eine dieser Seelen, dass ihr das Schicksal ein entstellendes Gebrechen zugeteilt hatte, und in ihrem Entsetzen sah sie voraus, dass sie einander unter diesen Umständen auf der Erde nicht angehören könnten und verweigerte das ihr zugeteilte Leben. Die andere Seele versuchte zu trösten und nahm endlich das entstellende Gebrechen auf sich selbst. – Auf Grund dieses Gesprächs, so erinnere ich die biographische Darstellung, kam die Ehe zwischen Moses Mendelssohn und Fromet Guggenheim zustande.
Der Eindruck dieser Darstellung einer Schicksalsbegegnung, eines Schicksalstauschs war so stark, dass ich damals schon sicher war, dieses Motiv einmal ans Licht zu holen, ins Licht zu heben.

Aber mit welchen Personen sollte es sein? Nicht mit Mendelssohns! Jahrelang stellten sich immer wieder zeitgenössische Varianten ein und wurden verworfen. Das Opfer-Motiv durfte nicht einseitig bleiben.

Da kam mir die griechische Mythologie mit der Alkestis-Sage zur Hilfe: Die Königin, die ihr Leben hingibt, um das des geliebten Gemahls zu retten. Die griechische Sage von Alkestis und ihrem Gemahl, dem König von Theben, ist ein Teil des grossen Herakles-Mythos. Herakles wird im Laufe der europäisch-christlichen Kulturentwicklung neben anderen, verwandten Gestalten, als ein Vor-Bild Christi, öfters als eine Vorahnung des Gottes, der zugleich Mensch ist, gedeutet: Er erleidet den Tod und steigt unmittelbar auf in die Welt der Götter. Herakles ist es, der in der Alkestis-Sage ihrem Opfertod die «Auferstehung», hier die Rückkehr ins Leben, folgen lässt, indem er in die Welt der Toten eindringt und dabei für Alkestis den Tod überwindet. Auch dieses Bild wirkt als Parallele zur «Höllenfahrt» Christi, die im christlichen Glauben den toten Seelen das verlorene ewige Leben wiederbringt.

Alkestis, ja, das war eine Möglichkeit für mein Konzept, wenn auf ihre «Auferstehung» durch Herakles verzichtet wurde. Meine Alkestis durfte eine jener leichtfüssigen heiteren, lichten Gestalten sein, denen alles im Leben zum Guten ausschlägt und die uns eher in einem Märchen begegnen als im alltäglichen Leben. Chrysis hingegen, ihrem belasteten Schicksal ausgeliefert, konnte zu allen Zeiten gelebt haben, bzw. leben, also auch in unserer Zeit.
Ihren Namen und manch anderes Wichtige hat mir der amerikanische Dichter Thornton Wilder geschenkt. Erst nachträglich entdeckte ich die Übersetzung «die Goldene» für den Namen Chrysis. Für das Leben der Chrysis reicht der Blick in die Tageszeitung, reichen persönliche Erfahrungen.

Geschenkt wurde mir die Figur des «Flötenspielers». «Grenzland» ist eigentlich ein Auftragswerk, es ist entstanden für die Künstlerinnen, die meine «Herzeloyde» durch die Welt getragen haben. Sie haben mich während des Arbeitens am Grenzland mit Bildern aus ihren Leben und kleinen alltäglichen Beobachtungen beschenkt, unter anderem mit Flötentönen. Musik als tiefgreifende, verwandelnde Erfahrung ist ein viel gestaltetes Motiv und für mich traf es sich mit einer kurzen unvergesslichen Freundschafts-Begegnung.

Und woher ein Bild für die nachtodliche Welt? Das griechische, lichtlose Schattenreich und die mittelalterlich-danteske christliche Hölle konnten es nicht sein. Geprägt durch meine auf der Anthroposophie gründende Vorstellung eines nachtodlichen Wegs und einer nachtodlichen Reinigung war meine erste Bildvorstellung eine industrielle Grosswäscherei, voll Aktivität und anstrengender Arbeit, als klärende Station auf einem Weg aus dem vergangenen Leben hinaus und als Voraussetzung für ein zukünftiges Leben. Aglaia wäre damit die verantwortliche Leiterin des Betriebs, umsichtig und sachverständig.

Möge das «Grenzland» mit Hilfe der darstellenden Künstler Grenzen überschreiten und Blicke öffnen, die Welten miteinander verbinden können.

Rose Aggeler, Autorin